Klaus Obermaiers Inszenierung von LE SACRE DU PRINTEMPS wurde 2006 uraufgeführt, Jahre vor dem Beginn des Hypes über stereoskopische Filme mit "Avatar". Was dieses Projekt immer noch so einzigartig macht ist die Tatsache, dass alle virtuellen Objekte und Environments live von der Tänzerin Julia Mach kreiert und in Echtzeit generiert werden. Auch das Orchester nimmt Einfluss auf die virtuellen Welten. Diese interaktiven Prozesse in Kombination mit den stereoskopischen 3D-Projektionen ermöglichen ein einzigartiges Erlebnis.
Die Epoche vor dem Ersten Weltkrieg, als Strawinsky „Le Sacre du Printemps“ komponierte, war durch ein rauschhaftes Verlangen nach Intensität des Lebens gekennzeichnet, das später ebenso heftig in Kriegsbegeisterung umschlug. Vor diesem Hintergrund konzipierte Strawinsky „Le Sacre“ als orgiastisches Massenballett.
Die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen spiegelt sich wider in der Auflösung herkömmlicher kompositorischer Entwicklungen und Strukturen: Bruchstückhafte, blockartige Aneinanderreihung der Sätze; abrupte Wechsel; Überlagerungen unterschiedlicher Tonarten und Rhythmen.
Dies führte, zusammen mit Nijinskys Choreografie, die mit komplizierten hektischen Bewegungen die Komposition Takt für Takt in Tanz übersetzte, zu einem der größten Premierenskandale der Musikgeschichte.
Heute, beinahe hundert Jahre später, stellt sich die Frage nach Authentizität des Erlebens aufgrund stetig fortschreitender Virtualisierung unserer Lebensräume. Es ist die Auflösung unserer sinnlichen Wahrnehmung, des Raum-Zeit-Kontinuums, die sich verwischende Trennlinie zwischen real und virtuell, Fakt und Fake, die uns an die Grenzen unserer Existenz führt.
Die Diskrepanz zwischen subjektiver Wahrnehmung und der scheinbar objektiven Wahrnehmung durch stereoskopische Kamerasysteme, deren Bilder durch Computer gefiltert und manipuliert werden, bildet die Basis für meine Inszenierung von „Le Sacre du Printemps“.
Es ist das Eintauchen der „Auserwählten“ in Virtualität, ihre Verschmelzung mit Musik und Raum, als zeitgemäßes „Opfer“ für das ungewisse Neue, als Metapher der Erlösung und Vorwegnahme des ewigen Glücks, das uns neue Technologien und alte Religionen versprechen. Oder zumindest als neue Dimension der Wahrnehmung.
„Le Sacre du Printemps“ thematisiert aber auch die komplexe Beziehung zwischen Musik, Tanz und Raum. In herkömmlichen Inszenierungen des "Sacre" wird zur Musik choreografiert und getanzt. In diesem Fall jedoch transformieren Dynamik und Struktur der Musik interaktiv die virtuelle Präsenz der Tänzerin, ihrer Avatare, und erzeugen so eine Art "Meta-Choreografie".
Stereoskopische Projektionen kreieren ein immersives Environment, das dem Publikum erlaubt, wesentlich dichter an dieser Kommunikation teilzuhaben, als in traditionellen Theater-Settings.
Auf der Bühne verteilte Stereokameras und ein komplexes Computersystem transferieren die Tänzerin Julia Mach in einen virtuellen dreidimensionalen Raum. Zeitschichten und ungewöhnliche Blickwinkel überlagern und vervielfältigen sich und ermöglichen völlig neue Einblicke auf den Körper und seine Bewegungsabläufe. Echtzeit-generierte virtuelle Räume kommunizieren und interagieren mit der Tänzerin. Der menschliche Körper ist einmal mehr die Schnittstelle zwischen Realität und Virtualität.
Der ästhetische Bogen spannt sich von den runenartigen Zeichen der Glagoliza, des ältesten bekannten slawischen Alphabets, bis zu „Matrix“-ähnlichen Räumen, deren Oberflächen durch denselben binären oder hexadezimalen Code visualisiert werden, der sie in Echtzeit generiert.
Über Mikrofone ist das Orchester interaktiv eingebunden. Musikalische Motive, einzelne Stimmen und Instrumente beeinflussen die Form, Bewegung und Komplexität sowohl der 3D-Projektionen des virtuellen Raumes, als auch die der Tänzerin.
Musik ist nicht mehr nur Ausgangspunkt, sondern auch Vollendung der Choreografie.
Klaus Obermaier